DFG-Projekt "Eheprozesse vor dem Freisinger Offizialat im späten Mittelalter"
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Begleitende Studien

Neben der Datenbank werden im Projekt zwei begleitende Studien angefertigt, die die Erkenntnispotenziale und Auswertungsmöglichkeiten der Freisinger Offizialatsakten exemplarisch demonstrieren sollen.

Gerichtspraxis des Freisinger Offizialats, Dr. Duane Henderson

Die erste Studie befasst sich mit der rechts- und institutionengeschichtlichen Bedeutung der Freisinger Offizialatsakten und dem Gericht als Personenverband. Aufgrund der Beschaffenheit der Freisinger Offizialatsprotokolle lassen sich detaillierte Erkenntnisse zum Verfahrensablauf geistlicher Gerichtsprozesse, zumal zum Verhältnis von Norm und Gerichtsalltag, gewinnen. Ein weiteres Ziel ist die prosopographische Untersuchung des gerichtlichen Personenverbands. Hierbei werden auch die außerhalb des Gerichts fungierenden delegierten Richter, Notare, Pfarrer und Gerichtsmediziner einbezogen sowie deren Interaktion und Kommunikation mit dem Gericht (z. B. bei Zeugenvernehmungen oder Gutachtenerstellung) untersucht. Eine statistische Auswertung des Quellenmaterials nach sozial- und rechtsgeschichtlichen Kriterien soll die soziale Zusammensetzung der Prozessparteien und die Kosten der Prozeßführung (Gerichtsgebühren) erhellen; auch der Umgang des Gerichtspersonals mit den vor Gericht klagenden Personen (im Fall der Prokuratoren etwa die Zusammenarbeit mit den vertretenen Prozeßparteien) soll in den Blick genommen werden. Mögliche Leitfragen sind:

  • Welche neuen Erkenntnisse über Gerichtsalltag und Verfahrensablauf lassen sich aus dem originalen Prozessschriftgut, den Tag-für-Tag-Mitschriften und den Zeugenaussagen gewinnen?
  • Worin bestanden die Spezifika des Gerichtspersonals (z. B. Bildungsvoraussetzungen), und wie gestalteten sich dessen Aufstiegschancen? Lassen sich persönliche und dienstliche Netzwerke des Gerichtspersonals fassen, und falls ja, auf welche Weise wurden sie für die gerichtliche Tätigkeit genutzt?
  • Wie gestaltete sich die Interaktion mit anderen geistlichen und weltlichen Gerichten/Institutionen, bzw. gab es Kompetenzstreitigkeiten unter ihnen?
  • Wie waren der Gang vor das Gericht bzw. die Zeugenvernehmung in das Alltagsleben der Prozeßparteien und Zeugen integriert? Hängen gerichtliche Glaubwürdigkeit und finanzieller Hintergrund einer Prozeßpartei zusammen? Gibt es Hinweise auf Geschenke (Bestechungsversuche?) an Gerichtspersonal oder Zeugen?
  • Inwieweit war das Gericht als rechtsprechende Institution akzeptiert? Sind bei Klägern und Beklagten eigene Vorstellungen von Recht und Gerechtigkeit greifbar? Konnten sie diese selbst artikulieren oder waren sie dafür auf juristisches Fachpersonal angewiesen?

Paare vor dem Freisinger Offizialat, Miriam Hahn M.A. (Dissertationsvorhaben)

Die zweite Studie hat zum Ziel, aus den Freisinger Offizialatsakten ein möglichst umfassendes Bild der Paarbeziehungen in ihrer jeweiligen Perspektivierung aus männlicher oder weiblicher Sicht, aus Sicht des Paares selbst, aus Sicht von Verwandten, Freunden und Dienstherren zu erarbeiten. Methodisch orientiert sie sich am Vorgehen der Sozial-, Alltags- und Mentalitätsgeschichte und bezieht Aspekte der historischen gender-Forschung ein. Thematisch wird den Bereichen vor- und außereheliche Beziehungen, Formen der Eheschließung, eheliche Haushaltung, Fernbeziehungen, Liebe, Sexualität, Schwangerschaft, Verhalten gegenüber Kindern, Gewalt, usw., nachgegangen. Durch die Erschließung der Quellengattung „Ehegerichtsprotokoll“ soll ein Beitrag zum besseren Verständnis der Lebens- und Vorstellungswelten von Liebes- und Ehepaaren sowie der sozialen Einbindung von Paaren am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit geleistet werden. Mögliche Leitfragen sind:

  • Auf welche Art und Weise wurden positive wie negative Wünsche oder Emotionen, Beschreibungen sexueller Aktivitäten und gender-Vorstellungen etc. vor Gericht artikuliert, und welche Schemata bzw. Prozessstrategien wurden durch die Äußerungen verfolgt?
  • Wo, wie, wann und durch welche Mittelsleute wurden Beziehungen angebahnt? Bei welchen Anlässen und mittels welcher Kommunikationsmedien konnten Liebende zueinander kommen? Wo, wie und unter welchen Bedingungen fanden sexuelle Kontakte statt?
  • Wie gestalteten sich das häusliche Zusammenleben (z. B. Groß- oder Kleinfamilien, Freunde, Gesinde) und die verwandtschaftlichen bzw. nachbarschaftlichen Verhältnisse? Wie reagierten Eltern, Verwandte, Freunde und Dienstherren auf die Liebschaften bzw. Ehen? Welche Mittel setzten sie zu deren Verhinderung oder Förderung ein?
  • Welche Arten der Partnerschaft und des Zusammenlebens sind in den Akten greifbar (z. B. Lebenspartnerschaft ohne Ehe, Alleinerziehende, Trennungs- und Scheidungspaare), und welche Lebensgemeinschaften wurden von der Gesellschaft akzeptiert bzw. nicht akzeptiert?
  • Welche Formen des Umgangs mit (unehelichen) Kindern bestanden? Unter welchen Bedingungen wurden Vaterschaften anerkannt? Wie sorgten Alleinerziehende für ihre Kinder bzw. welche Unterstützung (finanzieller Art oder durch Erziehung) empfingen sie durch den anderen Elternteil?