DFG-Projekt "Eheprozesse vor dem Freisinger Offizialat im späten Mittelalter"
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Ein Fall um Leben und Tod

(Ullrich Lindemann)

Am 10. Februar 1477 ging vor dem Freisinger Offizialatsgericht eine Klageschrift ein: Die Klägerin Margarete Sporer wollte festgestellt wissen, dass ihr verstorbener Bruder Johannes Schuttl nicht der Vater des Kindes seiner nun verwitweten Ehefrau Anna Schuttl gewesen war. Margarete Sporer brachte vor, dass ihr Bruder am Ende seines Lebens an Lepra gelitten hatte und sich bis zu seinem Tode am Dreikönigstag (6. Januar) 1476 in einem Leprosenhaus am Gasteig bei München [bei der heutigen Kirche St. Nikolai] aufgehalten habe (in leprosorio, vulgo „auf dem gaststeig“, prope Monacum situato dispositione altissimi)1. Die Beklagte dagegen habe erst am Tag der Translation des Hl. Korbinian (20. November) oder am Tag darauf eine Tochter namens Barbara zur Welt gebracht. Daher bat die Klägerin das Gericht zu bestätigen, dass das Kind weder die leibliche noch die rechtmäßige Tochter des Johannes Schuttl sein könne2. Vermutlich wollte sie hierdurch verhindern, dass das Erbe ihres Bruders der Tochter Barbara bzw. deren Mutter Anna zufiele.

Erst am 6. August wurde der Fall weiterverhandelt. Die Beklagte Anna Schuttl wurde zu dem Vorwurf verhört und bestätigte, dass, nachdem sie ihren Mann 13 Jahre zuvor geheiratet und von da an mit ihm in Wasserburg [a.Inn] gelebt hatte, dieser nach vielen Jahren mit Lepra geschlagen wurde3. Die Erkrankung wurde durch Fachleute festgestellt, so dass er in das Leprosenhaus in München ziehen musste (iudicio phisicorum et expertorum)4. Er sei am 6. Januar 1476 verstorben und sie habe ihre Tochter am 20. November auf die Welt gebracht5. Angesichts der großen zeitlichen Differenz - zehneinhalb Monate - räumte die Beklagte schließlich ein, ihre Tochter nicht mit ihrem Ehemann, sondern mit einem Konrad Wagner aus Wasserburg gezeugt zu haben.

Obgleich die Beklagte also schon die ihr zur Last gelegten Vorwürfe gestand, ging das Gericht nicht sofort zur Fällung eines Urteils über. Der Richter wollte sich zunächst durch Zeugenaussagen über die Termine des Todes- bzw. des Geburtstages vergewissern. Er beauftragte zwei Plebane, diesbezüglich vor Ort Zeugen zu befragen6. Der eine sollte in Wasserburg das Geburtsdatum der Barbara verifizieren, der andere am Gasteig den Todestag des Johannes bestätigen. Während die Wasserburger Zeugen über die Geburt der Barbara nur ungefähre Aussagen tätigten - etwa, dass die Geburt nach St. Martin (11. November) stattgefunden haben müsse7 -, konnte der Pleban im Leprosenhaus am Gasteig von den dortigen Insassen eine exakte Bestätigung des Todestages des Johannes Schuttl erhalten. Wie die Befragung der Leprakranken genau abgelaufen ist, kann man den Akten nicht entnehmen. Dennoch muss der Pleban das Leprosenhaus zumindest betreten und sich in Kommunikationsreichweite zu den Erkrankten aufgehalten haben. Die Größe des Einzugskreises des Leprosenhauses bei München lässt sich neben der Herkunft des Johannes Schuttl aus Wasserburg auch an der Benennung der an Lepra erkrankten Zeugen ablesen. Nur einer der drei stammte aus München, die zwei anderen dagegen aus Zell und aus Jasberg8.

Nach Feststellung dieser Faktenlage urteilte das Offizialat am 27. August, dass Johannes Schuttl nicht der Vater der Barbara gewesen war. Eine Bestrafung hatte die Beklagte Anna Schuttl aber nicht zu erleiden. Die den beiden Prozessparteien entstandenen Unkosten übernahm das Gericht ex certis rationabilibus causis animum nostrum moventibus sogar selbst9.

 

1 Bistum Freising, Offizialat 13, S.82.
2 Ebd., S.83.
3 Ebd., S.316.
4 Ebd.
5 Ebd.
6 Ebd.
7 Ebd., S.323.
8 Ebd., S.327.
9 Ebd., S.329.

 


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